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Texte


Letzter Weg

Wenn müde werden meine Glieder
und ich nicht mehr sprechen will,
dann setz dich einfach zu mir nieder,
halt meine Hand und werde still.

Mein Anblick wird nun anders sein,
doch habe keine Angst vor mir.
Ich sehe schon den hellen Schein
und für dein Dasein dank ich dir.

Quäl mich nicht mit Speis und Trank,
greif nicht ein in den Prozess.
Für dein Verständnis habe Dank.
Halt fern von mir auch Zank und Stress.

Meine Zeit hier auf der Erde,
langsam geht sie nun vorbei.
Ich weiß dass ich nun sterben werde ...
Mein Körper gibt die Seele frei.

Werd ich auch meine Augen schließen,
der Tod wird nicht das Ende sein.
Drum sollst du Tränen nicht vergießen,
ich bin nun bald wieder Daheim.

(Doreen Kirsche)


Es gibt dich

Dein Ort ist
wo Augen dich ansehn
Wo die Augen treffen
entstehst du

Von einem Ruf gehalten
immer die gleiche Stimme
es scheint nur eine zu geben
mit der alle rufen

Du fliehst
aber du fällst nicht
Augen fangen dich auf

Es gibt dich
weil Augen dich wollen
dich ansehen und sagen
dass es dich gibt

(aus Hilde Domin, Gesammelte Gedichte, S. Fischer Verlag, Frnakfurt am Main 1987)


Stumme Schreie

Ich wache auf, um mich herum ist es stockfinster, nicht einen kleinen Spalt haben sie im Rollo gelassen, selbst das Licht der Straßenlaternen muss draußen bleiben. Ein furchtbares Jucken an der Nase hat mich geweckt, aber ich kann mich nicht kratzen, ich kann auch nicht klingeln, um Hilfe zu holen. Vor einem Jahr hatte ich einen Schlaganfall, seit dem bin ich ans Bett gefesselt, kann nicht mehr sprechen, meine Arme und Beine haben starke Kontraktionen, das Schlucken ist sehr mühsam.

Darum liege ich in diesem Pflegeheim, tagein tagaus bin ich auf fremde Hilfe angewiesen, nicht die kleinste Bewegung kann ich alleine machen. Nie hätte ich gedacht, dass ich einmal so enden werde, ja, das hier ist meine Endstation.

Vor der Zimmertür rumpelt es, ich muss noch einmal eingeschlafen sein. Da öffnet sich auch schon die Tür, die grelle Deckenlampe wird angemacht und ein forsches „Guten Morgen“ schallt aus dem Mund der Schwester.Die eine poltertins Bad, um die Waschschüssel zu holen, die andere tritt an mein Bett und zieht mit dem Satz: „Jetzt wollen wir mal waschen!“, die warme Decke von meinem Körper. Die Luft im Zimmer ist kalt und ich fühle mich nackt und elend, wie gerne würde ich jetzt schreien, leider verstehen die beiden die Sprache meiner Augen nicht. Nun beugen sie sich über mich, um mit der Prozedur des Waschens zu beginnen. Die eine richt nach einem starken süßen Parfüm, die andere wird noch umhüllt vom Knoblauch des Vorabends und der ersten Morgenzigarette. So werde ich zwischen diesen beiden Geruchsfronten hin und her gerollt. Bald ist mir übel, ich weiß nicht, ob vor Scham und Elend oder ob meine Geruchsnerven die Belastung nicht mehr ertragen. Sie kichern und schwatzen und über meinen Kopf hinweg, ob sie eigentlich wahrnehmen, dass vor ihnen ein hilfloser Mensch liegt. Zu ihrer Unterhaltung haben sie das Radio eingeschaltet, was hier als Musik angeboten wird, bezeichnet unsere Generation als Lärm. Es ist mein Zimmer, es ist mein Radio, aber ich kann mich nichz whren. Nach einer endlosen Viertelstunde sind sie endlich fertig, sie haben keinen ganzen Satz mit mir gesprochen, ich kann ja so wie so nicht antworten. Mir ist immer noch so übel, mir ist kalt und ich schäme mich über mein Hilflosigkeit. Sie haben vergessen den Lärm aus dem Radio abzuschalten, ich kann nichts dagegen tun. Ich bin vollkommen erschöpft und versuche in die Welt des Schlafes zu flüchten. Vielleicht ist heute der Tag, an dem die nette Frau am Nachmittag kommt. Sie legt meine Lieblingskassette ein, liest mir vor, streichelt meine Hand und redet mit mir, obwohl ich ihr nicht mit Worten antworten kann, sie versteht wohl die Sprache meiner Augen.

Hoffentlich ist heute dieser Tag ….

Quelle unbekannt ... für Informationen zur Quelle wäre ich sehr dankbar


Der Segen meines Großvaters

Wenn ich an den Freitagnachmittagen nach der Schule zu meinem Großvater zu Besuch kam, dann war in der Küche seines Hauses bereits der Tisch zum Teetrinken gedeckt. Mein Großvater hatte seine eigene Art, Tee zu servieren. Es gab bei ihm keine Teetassen, Untertassen oder Schalen mit Zuckerstückchen oder Honig. Er füllte Teegläser direkt aus einem silbernen Samowar. Man musste zuerst einen Teelöffel in das Glas stellen, denn sonst hätte das dünne Glas zerspringen können. Mein Großvater trank seinen Tee auch nicht so, wie es die Eltern meiner Freunde taten. Er nahm immer ein Stück Zucker zwischen die Zähne und trank dann den ungesüßten heißen Tee aus dem Glas. Und ich machte es wie er. Diese Art, Tee zu trinken, gefiel mir viel besser als die Art, auf die ich meinen Tee zu Hause trinken musste.

Wenn wir unseren Tee ausgetrunken hatten, stellt mein Großvater stets zwei Kerzen auf den Tisch und zündete sie an. Dann wechselte er auf Hebräisch einige Worte mit Gott. Manchmal sprach er diese Worte laut aus, aber meist schloss er einfach die Augen und schwieg. Dann wusste ich, dass er in seinem Herzen mit Gott sprach. Ich saß da und wartete geduldig, denn ich wusste, jetzt würde gleich der beste Teil der Woche kommen.

Wenn Großvater damit fertig war, mit Gott zu sprechen, dann wandte er sich mir zu und sagte: "Komm her, Neshumele." Ich baute mich dann vor ihm auf und er legte mir sanft die Hände auf den Scheitel. Dann begann er stets, Gott dafür zu danken, dass es mich gab und dass Er ihn zum Großvater gemacht hatte. Er sprach dann immer irgendwelche Dinge an, mit denen ich mich im Verlauf der Woche herumgeschlagen hatte, und erzählte Gott etwas Echtes über mich. Jede Woche wartete ich bereits darauf, zu erfahren, was es diesmal sein würde. Wenn ich während der Woche irgendetwas angestellt hatte, dann lobte er meine Ehrlichkeit, darüber die Wahrheit gesagt zu haben. Wenn mir etwas misslungen war, dann brachte er seine Anerkennung dafür zum Ausdruck, wie sehr ich mich bemüht hatte. Wenn ich auch nur kurze Zeit ohne das Licht meiner Nachttischlampe geschlafen hatte, dann pries er meine Tapferkeit, im Dunkeln zu schlafen. Und dann gab er mir seinen Segen und bat die Frauen aus ferner Vergangenheit, die ich aus seinen Geschichten kannte - Sara, Rahel, Rebekka und Lea -‚ auf mich aufzupassen.

Diese kurzen Momente waren meiner ganzen Woche die einzige Zeit, in der ich mich völlig sicher und in Frieden fühlte. In meiner Familie von Ärzten und Krankenschwestern rang man unablässig darum, noch mehr zu lernen und noch mehr zu sein. Da gab es offenbar immer noch etwas mehr, das man wissen musste. Es war nie genug. Wenn ich nach einer Klassenarbeit mit einem Ergebnis von 98 von 100 Punkten nach Hause kam, dann fragte mein Vater: "Und was ist mit den restlichen zwei Punkten?" Während meiner gesamten Kindheit rannte ich unablässig diesen zwei Punkten hinterher. Aber mein Großvater scherte sich nicht um solche Dinge. Für ihn war mein Dasein allein schon genug. Und wenn ich bei ihm war, dann wusste ich irgendwie mit absoluter Sicherheit, dass er Recht hatte.

Mein Großvater starb, als ich sieben Jahre alt war. Ich hatte bis dahin nie in einer Welt gelebt, in der es ihn nicht gab, und es war schwer für mich, ohne ihn zu leben. Er hatte mich auf eine Weise angesehen, wie es sonst niemand tat, und er hatte mich bei einem ganz besonderen Namen genannt - „Neshumele", was "geliebte kleine Seele" bedeutet. Jetzt war niemand mehr da, der mich so nannte. Zuerst hatte ich Angst, dass ich, wenn er mich nicht mehr sehen und Gott erzählen würde, wer ich war, einfach verschwinden würde. Aber mit der Zeit begann ich zu begreifen, dass ich auf irgendeine geheimnisvolle Weise gelernt hatte, mich durch seine Augen zu sehen. Und dass einmal gesegnet worden zu sein heißt, für immer gesegnet zu sein.

Quelle:  Rachel Naomi Remen, Aus Liebe zum Leben. Geschichten, die der Seele gut tun, © Arbor Verlag, Freiburg im Breisgau 2002.


Je schöner und voller die Erinnerung,
desto schwerer ist die Trennung.

Dietrich Bonhoeffer


Das schönste Denkmal,
das ein Mensch bekommen kann,
steht in den Herzen seiner Mitmenschen.

Albert Schweitzer


Der Mensch, den wir lieben,
ist nicht mehr da, wo er war,
aber überall, wo wir sind
und seiner gedenken.

Albert Schweitzer